Ein europäischer Erlebnisbericht von Sarah Grandke (Mitglied der JEF Erfurt)
Nun ja, auf den ersten Blick ist Belarus ein tolles Land. Jeder hat Arbeit und ist rundum, zumindest zu einem absoluten Minimum, staatlich abgesichert – jedenfalls scheint es so. Nutella, Coca Cola, deutscher Markenkäse, L’Oreal-Mascara und in Minsk sogar McDonald’s. Dazu auch noch, nun, nennen wir es eine (halbwegs?) „stabile politische Lage“. Mit anderen Worten, alles was das Herz begehrt, oder?
Ich fuhr mit dem Volksbund für Kriegsgräberfürsorge in diesem Sommer für ein Workcamp drei Wochen nach Belarus. In ganz Europa organisiert die Deutsche Kriegsgräberfürsorge Reisen und Sommercamps für Jugendliche aller Nationen. Pro Woche werden circa 20 Stunden auf Kriegsgräbern gearbeitet, sowohl auf deutschen Soldatenfriedhöfen als auch auf Kriegsdenkmälern und Grabstätten aller Opfer des Krieges. Für mich ging es nach Belarus, oder wie man in Deutschland sagt, Weißrussland – in „die letzte Diktatur Europas“. Historisch wie politisch ist Belarus ein hochinteressantes Land das Jahrhunderte unter der Herrschaft von Fremden (Polen-Litauer, Deutschen, Russen, …) und im Zweiten Weltkrieg mit am Stärksten unter den Auswirkungen des Russlandfeldzuges zu leiden hatte. Schon das allein wäre bereits einen ausführlicheren Artikel wert.
[row][column md=“4″][/column] [column md=“4″][/column] [column md=“4″][/column][/row]Ich bin mit einer sehr ambivalenten Haltung nach Belarus gefahren und habe diese auch beibehalten. Ja, es gibt sie, die sehr verarmten Dörfer ohne fließendes Wasser, scheinbar fernab jeglicher Zivilisation und Moderne – und dann dreht man sich um und sieht ein unglaublich modernes Eishockeystadion, von dem selbst die eine oder andere Landeshauptstadt in Deutschland nur träumen kann. Und ja, es gibt in den Supermärkten alles, wirklich alles. Noch dazu beschafft der Staat nahezu jedem einen Arbeitsplatz und wenn es nur bedeutet leere Einkaufskörbe zu reinigen oder Gemüse abzuwiegen und danach die Tüten zu verschließen. Doch zu welchem Preis geschieht das alles? An der Kasse war ich stets verwirrt, so viele Nullen und Kommastellen auf der Anzeigetafel, am Ende war die Kassiererin genervt und suchte sich zwischen meinen ganzen – wirklich wertlosen – Scheinen, das Geld selbst zusammen. Beim Geldumtauschen – Euro in belarussische Rubel – war man schon nach kurzer Zeit nicht mehr der einzige in der Bank. Nicht selten bildeten sich Schlangen und wir Deutschen – mit Euros – wurden umgarnt und gefragt, ob wir nicht direkt mit den Leuten tauschen wollten, anstatt mithilfe der Bank… Anfang des Jahres wurde die belarussische Währung so sehr abgewertet, dass innerhalb eines Tages die Leute zwei bis dreimal ärmer wurden – und das von heute auf morgen. Nur für Benzin, Tabak, Brot und Alkohol existieren staatlich fixierte Preise. Alle anderen Preise lässt die Inflation ins Unermessliche steigen. So kann es auch durchaus vorkommen, dass auf einer Saftpackung gleich vier Preisschilder übereinander kleben und der sogar teurer ist, als eine Flasche Wodka.
Dennoch gibt es immer noch genügend Menschen, die für Aljaksandr Lukaschenka eintreten, den „Vater“, wie er im eigenen Land auch gern genannt wird – oder eben in Westeuropa als der „letzte Diktator Europas“. Objektive Beobachter, wenn es diese denn in einem autoritären Staat überhaupt gibt, sprechen immer noch von einer Zustimmung von 40 bis 60 Prozent der Bevölkerung – kann da von Diktatur gesprochen werden? Ich weiß es nicht und auch, wenn ich die Zustände noch so sehr verstehen will, finde ich keine rechte Erklärung. Ich weiß nur, dass in dem Land etwas schief läuft und das ganz massiv. Wer sich öffentlich gegen das Lukaschenka-Regime äußert, ja sich sogar traut zu demonstrieren, der hat ein Problem. Studierende, die an Protesten beteiligt sind, können – und werden auch oft genug – exmatrikuliert. Rund 80 Prozent der Wirtschaft sollen in staatlicher Hand sein – verliert jemand seinen Job, so steht er allein auf weiter Flur, denn es gibt kaum Möglichkeiten einen neuen Arbeitsplatz zu finden – vor allem nicht für einen Lukaschenka-Gegner.
[row][column md=“6″][/column] [column md=“6″][/column][/row]„Zusammen sind wir Weißrussland“ steht an jeder Ecke auf großen Schildern. Im Hintergrund eine glückliche Familie und die Farben grün und rot, die Nationalfarben. Ist nicht dieses Plakat zu sehen, dann aber zumindest „Ich liebe Belarus“, dazu passend auch der belarussische Beitrag zum Eurovision Song Contest im Jahr 2011: „I love Belarus“. Im Supermarkt dann der Aufruf: „Kauft belarussisch“. Das Credo heißt Zusammenhalten, vor allem vor den Ausländern die bisher immer nur Schlechtes nach Belarus brachten – Unterdrückung, Krieg und Leid. Die Schlussfolgerung (des Regimes) daraus? Abschottung und Autarkie soweit es geht. Seit einiger Zeit sogar durchaus erzwungenermaßen, denn wirtschaftliche und politische Sanktionen, die massive (belarussische) Finanzkrise, welche es dem ehemaligen Sowjetstaat nahezu unmöglich macht Produkte aus Westeuropa zu importieren, denn bezahlt werden müssen diese in Euro oder Dollar – und die gibt es in Belarus nicht (mehr). Dazu auch die hohe Inflation. Das alles macht Belarus das Leben schwer – und isoliert es zunehmend.
Die große Frage ist, wie es nun mit Belarus weitergeht. Das Land ist schon jetzt stark gespalten. Nicht nur in Lukaschenka-Gegner und Befürworter, sondern auch in Stadt und Land. Minsk ist eine sehr pulsierende, junge und moderne Stadt. Hier befindet sich auch die Opposition. Auf dem Land sieht es da schon ganz anders aus. Vor allem dort befinden sich die Lukaschenka-Anhänger – vor allem die Älteren, die sich erinnern, wie wirtschaftlich gut es ihnen zur Sowjetzeit ging (Belarus galt zu Sowjetzeiten als Musterbeispiel des Sozialismus) und wie unglaublich schlecht die Lage nach dem Zerfall der UdSSR und der unfreiwilligen Unabhängigkeit war. Sie haben Lukaschenka 1994 auf demokratische Weise zum Präsidenten gewählt. Trotz Verfassungsbrüchen und einem sehr starken Autoritarismus gibt er dem Land Stabilität. Viele Belarussen sehen den massiven Wohlfahrtsunterschied zu Russland, das politische Chaos in der Ukraine und nicht zuletzt, die Kriege im Kaukasus – da erscheint das „belarussische Modell“ für viele doch als ganz angenehm. Die Zeit wird zeigen, wie es mit dem Land an der Grenze zur Europäischen Union weitergeht. Spätestens im Spätherbst und Winter werden sich die massiven Preissteigerungen für Lebensmittel bemerkbar machen. Schafft es das Regime nicht dem entgegenzuwirken, so könnte die Unzufriedenheit der Belarussen weiter ansteigen und zu neuen Demonstrationen führen. Auch zu einer Demokratisierung? Es wäre den Belarussen zu wünschen.